Eine bewegende Passion

von Eliana Lynne Uretsky, in A Moving Journal 3 (1), 7-9, 1996 © - published with permission. (ins Deutsche übersetzt von Clarissa Costa, in Pulsationen 46 (2003) S. 4-8)


Ich habe eine Leidenschaft für klare Sprache und freie, unbelastete Beziehungen. Das in einer Welt, in der die Schichten von Unklarheit und Vorurteilen oft so dick sind, dass Worte, Färbungen der Stimme und Handlungen selten einfach „sie selbst“ sind. Und dann verschleiern die Wolken unserer persönlichen Geschichten direkte Kommunikation und machen es schwer, Vertrauen und eine gemeinsame Sprache zu entwickeln.

Das Praktizieren von Authentic Movement hat mich zutiefst beeinflusst, mir geholfen, und mich inspiriert in Bezug auf Sprache und Beziehung. Authentic Movement wurde in den 50er Jahren von der Tänzerin Mary Starks Whitehouse begründet und benannt, und wird kontinuierlich weiterentwickelt und ausgeprägter. Eine der Pionierinnen von Authentic Movement ist Janet Adler, eine kalifornische Bewegungstherapeutin, die bei Mary ausführlich studiert hat. Sie unterrichtet diese Methode schon seit über 20 Jahren. Heute praktizieren Männer und Frauen aller Berufsrichtungen auf der ganzen Welt Authentic Movement; es gibt Abweichungen - aber die meisten Menschen arbeiten nach dem folgenden Setting:

Eine oder mehrere Personen nimmt / nehmen die Rolle der Zeugin und der Bewegenden ein. Die Rollen werden normalerweise innerhalb einer Sitzung gewechselt, außer in einem therapeutischen Kontext. Mit einer Glocke, einem Gong, oder einem ähnlichen Klangkörper kennzeichnet die Zeugin den zuvor ausgemachten Anfang und das Ende der Bewegungseinheit. Die Zeugin sitzt am Rande des Raums, in einem Kreis, wenn es eine Gruppe ist. Sie beobachtet die Bewegende(n) mit all ihren Sinnen, nicht nur mit dem analytischen Auge. Sie beachtet auch ihre eigenen Empfindungen, Bilder, Gedanken, Gefühle, und Phantasien. Dadurch, dass sie sowohl nach außen als auch nach innen aufmerksam ist, ist sie nicht nur Zeugin der Bewegenden, sondern auch für sich selbst.

Die Bewegende schließt ihre Augen, für gewöhnlich irgendwo mitten im Raum. Sie soll ihren inneren Impulsen folgen und sich von ihnen in Bewegung, stimmlichem Ausdruck, oder in Stille führen lassen. (Sollten ihre Bewegungen groß, schnell, oder scharf werden, öffnet sie flüchtig die Augen.) Alles kann passieren: sie kann einfach am Boden liegen, Akrobatik betreiben, heulen oder singen, auf die Zeugin zugehen oder sie ignorieren, und so weiter. Ihre inneren Bewegungen können sich irgendwo zwischen weltlich und transzendent anfühlen, sie kann sich mehr oder weniger direktiv oder geführt fühlen.

Ich erlebe diese Art von Bewegung wie eine sehr direkte Sprache, in der alle meine Körperzellen sprechen können, unter Verwendung von unzähligen Dialekten, Abwandlungen und Klangfarben. Authentic Movement ist für mich eine Form von aktiver Meditation, in der ich übe, Vorurteile und Vorstellungen fallen zu lassen, um dafür gleichzeitig das zu empfangen und auszudrücken, was die einzelne Bewegung bringt.

Nach der Bewegungs-Sequenz sitzen Bewegende und Zeugin normalerweise zusammen: in Stille, oder sie sprechen über ihre Erfahrungen, ganz persönliche, kollektive, bis hin zum Transpersonalen. In vielen Authentic Movement – Gruppen spricht die Bewegerin zuerst, und wenn sie will, bekommt sie Rückmeldungen von den Zeuginnen. Bei anderen Gruppen vermischen sich die Aussagen von Bewegender und Zeugin zu einer Art Geschichtenerzählen. Diese verbale Komponente von Authentic Movement - besonders die Rückmeldungen der Zeuginnen - hat für mich eine besondere Kraft.

Das ist also das Grund-Setting. Es gibt mehrere Variationen, besonders bezüglich des Gesprächteils. Ich möchte darauf hinweisen, dass die Authentic Movement -Prozesse die ich hier beschreibe auf meinen eigenen Erfahrungen und auf denen von mir bekannten Personen basieren. (Zum Seitenanfang)

Als Zeugin sprechen:

Die Zeugin bezieht sich in ihrer Aussage normalerweise auf bestimmte Bewegungen (in einigen Gruppen mit Erlaubnis), oder auf Geschehnisse, die sie in der Bewegungssequenz gesehen oder gehört hat. So entsteht ein Zeit- und ein Raumrahmen. Dann berichtet sie über ihre eigenen Reaktionen (Eindrücke, Gefühle, Vorstellungen, Erinnerungen....), doch sie differenziert deutlich zwischen diesen und den Bewegungen der gesehenen Person.

Sie beschreibt zum Beispiel eine Aktion der Bewegerin folgendermaßen:“ Du hast deine Augen mit den Händen bedeckt,“ und dann ihre Reaktion:“ Ich fühlte mich plötzlich traurig“, oder „Ich stellte mir vor, dass du traurig warst“, oder „Ich sah eine indianische Mystikerin, die betete“, oder „Ich erinnerte mich an eine Bewegung meiner Großmutter“, oder „Meine Brust fühlte sich in diesem Moment ganz eng an“.

Wenn sie spricht, bekennt sich die Zeugin so sehr wie möglich zu ihren eigenen körperlichen Gefühlen und Wahrnehmungen, und deutet nicht und versucht auch nicht, die Aktionen der Bewegerin zu deuten. Wenn sie zum Beispiel während der Bewegungssequenz Kopfweh bekommt, wird sie nicht annehmen, dass sie dieses vielleicht von der Bewegerin „übernommen“ hat, sondern sie wird sich überlegen, ob ein Zusammenhang zwischen Bewegung und ihrem Kopfweh besteht. Wenn ihr die Bewegende stolz, verzweifelt oder gelangweilt erscheint, wird die Zeugin nicht annehmen, dass diese Eindrücke wirklich mit denen der Bewegenden übereinstimmen. So unterscheidet sie deutlich zwischen ihren Wahrnehmungen und einer Interpretation dieser Wahrnehmungen. Sie versucht also über sich selbst zu sprechen.

Die Zeugin versucht auch über die eigenen Wahrnehmungen deutlich und differenziert zu sprechen: „ich fühlte“, „ich stellte mir vor“, „ich erinnerte mich“, u.s.w.
Sie beschreibt offen ihre körperlichen und emotionalen Eindrücke, und nicht die Wahrnehmung der anderen Person. (Zum Seitenanfang)

Umgangssprache:

Diese Art zu sprechen ist Welten von unserer Umgangssprache entfernt und auch physisch verwurzelt. Bedenken Sie einmal alltägliche Aussagen wie „damals, als du traurig warst, hast du deine Augen bedeckt“, oder „ich fühlte, dass du traurig warst, als du deine Augen bedecktest“, oder „du hast ausgeschaut wie meine Großmutter, als...".
In diesen Sätzen stellt die Person ihre Eindrücke und die eigenen Reaktionen auf diese Eindrücke – auch Deutungen, die mit der eigenen Geschichte zusammenhängen – als Tatsache dar, und stülpt sie den Erfahrungen der anderen Person einfach drüber. Oft sind diese Aussagen auch weit von den eigenen ursprünglichen Eindrücken entfernt, der Fokus liegt auf dem „Du“ (die andere). Das schreiendste Beispiel ist vielleicht „ sei nicht traurig / verärgert / bereue nicht...“ (denn wenn du das tust, fühle ich mich nicht gut.)

Die meisten von uns sind voreingenommen oder deuten die anderen ständig, teils weil wir so erzogen wurden, und vielleicht auch, weil wir von Natur aus unserem eigenen Verständnis Geschichtenerzählerinnen sind. Bei Authentic Movement versuchen wir, diese Geschichten zu erkennen und zu benennen - nicht sie zu unterdrücken. Wenn sie erkannt werden, können die Geschichten für die Zeugin selbst sehr aufschlussreich sein: sie erkennt z. B., welche Deutungen sie gewissen Dingen zuschreibt („diese Bewegung bedeutet für mich Traurigkeit“), sie lernt über ihre Körperempfindungen und Gefühle („das war meine Traurigkeit, die ich ihr zugeschrieben habe“), und sie nimmt unbewusste Sprachgewohnheiten wahr. Die Bewegerin kann die Geschichten der Zeugin als aufschlussreich empfinden oder auch nicht, sie kann diese und auch andere Rückmeldungen für sich verwerten.

Die Bewegerin mag sich wundern, „Hmmm, traurig? Nein“, oder „war meine Brust da eng?“ Durch das Wahrnehmen von Deutungen wird der Abstand zwischen ihnen und dem ursprünglichen Ereignis deutlicher, so wie der Abstand zwischen Bewegerin und Zeugin. Ich empfinde diesen Abstand wie eine heilige Leere - ein fühlbarer Zwischenraum für Atmen und Licht, eine Erleichterung. (Zum Seitenanfang)

Fäden entwirren:

Diese Erforschung, Untersuchung und Verfeinerung der Sprache ist innerhalb der Authentic Movement - „Werkstatt“ experimentell und in Entwicklung. Das Entwirren von „Gewohnheitsfäden“ verlangt eine penible Aufmerksamkeit, die kann sich manchmal, im schlimmsten Fall, wie eine Zensur anfühlen. Für mich ist aber wichtig, zu erinnern, dass wir hier eine Klärung von Erfahrung und Sprache anstreben. Wir wollen Worte sorgfältig verwenden und uns nicht noch eine Beschränkung auferlegen. Sprache und Erfahrung formen sich gegenseitig, Worte sind ein Ausdruck unserer Eindrücke. Wenn wir eine Sprache voller Vorannahmen verwenden, drücken wir eine ihr zugrunde liegende Unklarheit zwischen ich/mein und du/dein, und dem Dazwischen aus, und wir untermauern diese Unklarheit. Deuten oder Überstülpen von Erfahrungen anderer mit unseren Geschichten („Du bist müde, weil...“ oder „Fühl das nicht,“) ist, glaube ich, das verbale und psychische Äquivalent zu dem Werfen eigenen Mistes vor die Tür der anderen. So eine Aktion empfindet man als Verletzung der Privatsphäre. Doch die verbale Form des Eindringens ist gesellschaftlich gebilligt, kaum erkannt, passiert abseits von persönlicher oder kollektiver Wahrnehmung, und führt wahrscheinlich zu tieferen Verletzungen. Es kann Spaß machen, aber auch schockierend sein zu beobachten, wie oft die „mistwerfende“ Sprache in Konversationen, im Fernsehen, und auch im geschrieben Wort verwendet wird.

Ich weiß nicht, woher unser anmaßender, „du“-orientierter Sprachgebrauch kommt, doch wird diese Gewohnheit seit Jahrhunderten durch religiöse, wissenschaftliche, ökonomische und soziale Strukturen bestärkt.
Hier wirkt ein einfaches Rezept: man nehme tausend Jahre „der Herrgott (nicht man selbst!) weiß es besser“ - Praktiken der Religionen und dazu Unterdrückung und Negierung des Körpers, der Gefühle und der Sinne. Rühren Sie noch einige wissenschaftliche Zutaten darunter: die Beobachterin unabhängig vom Beobachteten, das Universum voll mit fixen „Dingen“, die Wahrheit als objektiv erfahrbar. Fügen Sie noch eine entmenschlichende Dosis Militärausbildung und einige hundert Jahre Identifizierung mit Maschinen dazu. Würzen Sie schließlich mit der Entwicklung westlicher Medizin und den vielen anderen Berufen, für die diese ein Vorbild war. Menschen in diesen Berufen erwarten von sich selbst, Antworten zu haben, und ihre Annahmen und ihr Geschichtenerzählen wird nicht nur geduldet, sondern sogar gefördert. Die meisten von uns lernen, dass die Wahrheit ausserhalb von uns selbst liegt, und dass irgendwer anderer, besonders ein "Professioneller", die richtigen Antworten für uns hat.

Kurz gesagt: wir haben unsere Art zu denken und zu sprechen lange genug geübt. Das alles loszulassen, u.a. das Bedürfnis, zu wissen und Recht zu haben, verlangt uns eine größere Ego-Neuordnung ab, eine Veränderung unserer Identität. Wir haben jedoch Unterstützung in der neueren Physik und in einigen alten spirituellen Traditionen. Beide sprechen zu uns über eine sich immer verändernde und fließende Welt, in der die Beobachtende und das Beobachtete zwar eigenständig sind, sich jedoch immerfort gegenseitig beeinflussen. In dieser fließenden Welt können wir, wenn wir wollen, unsere Geschichten und Deutungen schweben lassen, weder richtig noch falsch. Wir können immer wieder zu unserer körperlich begründeten Erfahrung als Ursprung unserer Sprache zurückkommen. Zugang zu dieser Erfahrung (was ich fühle ... empfinde ... annehme?) und auf diese Einfluss zu haben, ist für die meisten von uns eine Sache fortwährender Erziehung, so wie wir uns stufenweise unserer alten verbalen und körperlichen Gewohnheiten entledigen.

Ich möchte noch einmal zu einer schon erwähnten Metapher zurückkehren: das Reinigen von Sprache und Psyche ist vielleicht wie das Lernen, unseren Mist zu sortieren, wiederzuverwerten und zu kompostieren. Und so wie alles von der Erde kommt und wieder zu Erde wird, entspringen Gedanken und Sprache aus unserem Körper und kehren wieder zu ihm zurück. Deshalb glaube ich, ist es essentiell, von körperlichen Erfahrungen bei der Spracherforschung auszugehen.

Authentic Movement ist der Name einer von wahrscheinlich unendlich vielen Formen, diese Erforschung der Sprache zu betreiben. Ich glaube, sie ist eine der ganzheitlichsten und ausgeglichensten Formen, weil sie Körper, Bewegung, Stimme, Stille, Sprache, und das Bezeugen beinhaltet, und auch große Sorgfalt und Achtsamkeit mit den involvierten Menschen. Die Benennung von Erforschungsmethoden ist nicht so wichtig; aber das körperliche Element, die Sorgfalt und die Bereitschaft daran zu bleiben und alles zu hinterfragen, sind unentbehrlich.
Das ist meine Leidenschaft, und ich wäre begeistert, wenn Sie sie mit mir teilen wollten.

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